Erinnerte Spurensuche im Portrait

Maskengesichter – undurchdringlich, geheimnisvoll, unheimlich, scheinbar wesenlose Porträts bestimmen den ersten Eindruck. Gesichtsausschnitte in weißer, gelblicher, roter, schwarz-grauer Übermalung scheinen sich zu glei-chen. Frisuren, Kleidungsstücke, Schmuck, die persönlichen Geschmack oder Vorlieben verraten, bleiben ausgespart. Anonymität, ein Verbergen hinter der Maske kennzeichnet die Gesichter auf den ersten Blick. Kontraste von Hell und Dunkel verleihen den Gesichtern eine skulpturale, gemeißelte Starre. Die Beleuchtung von oben wirkt wie ein Schlagschatten, der Nasen, Backenknochen hervorhebt und die Augenhöhlen betont, Höhlen, in denen Augen ihren Schutz, ihren Unterschlupf finden. Erscheinungen von Licht- und Schattenverhältnissen heben die Materialität der überlebensgroßen Porträts hervor und vermitteln trotz der zweidimensionalen Bildfläche die Vorstellung einer dritten Dimension. Stefan Heide malt mit Acryl auf Nessel. Mit Hilfe eines Farbverzögerers übermalt er alle Schichten mehrfach, die so lange nass bleiben, bis das Bild fertiggestellt ist. Mit breitem Pinsel formt er als gelernter Bildhauer Bewegungen in den Gesichtern, erfasst er Malerei haptisch wie Skulpturen, erlebt er das Gesicht als Landschaft von Erhebungen und Vertiefungen. Bekannte und anonyme Gesichter, die den Künstler wie ein punctum treffen, hält er in der Fotografie fest. Aber durch die fotografische Reproduktion wird das Einmalige jeder Gegebenheit überwunden. Malend versucht Stefan Heide das Einmalige in der erfahrenen Augenblicksbegegnung wieder zu entziffern, versucht er die im Individuum verborgenen Phänomene zu erkennen.
Tastend mit dem Blick will auch der Betrachter die grauen, rot-gelben Schichten lösen, will Folien abziehen, um die Physiognomie jedes Individuums aus seinem Versteck zu locken. Der Betrachter entdeckt Unterschiede in der Blickrichtung der Porträtierten, Blicke, die ihn frontal berühren, sich von oben nach unten neigen, Blicke, die sich von ihm weg auf ein unbestimmtes Ziel richten. Verschlossen, verkniffen, lächelnd zeigen sich Münder. Unter der vermeintlichen Einheitlichkeit öffnet sich eine Vielschichtigkeit.
Dennoch, ein freier visueller Zugang zu den Gesichtern bleibt versperrt. Das abgebildete Individuum zeigt sich und verbirgt sich zugleich. “Unter dem Bild eines Menschen ist seine Geschichte vergraben wie unter einer Schneedecke”, sagt Siegfried Kracauer. Stefan Heide führt uns mit seinen Porträts die Ambivalenz von Außen – und Innenansicht, von Entgrenzung – und Grenzenziehen vor. Ist die Verstellung dem Menschen nicht immanent? Die Dialektik von Innen und Außen, von Bezeichnetem und Bezeichnendem, von Nähe und Distanz, von Gesicht und Maske macht Stefan Heide zum Thema seiner Arbeit. Es ist eine Dialektik, die den Kunstbegriff bestimmt und konstitutiv ist für diese gemalten Bilder. Das äußere Bild, dessen Innenansicht verborgen bleibt, setzt Distanz zwischen sich und dem Betrachter und fordert diesen zugleich auf, die Individualität des Einzelnen zu entdecken.
Dieses Spiel von Entgrenzung und Grenzenziehen, von Verhüllen und Neugierde auf Enthüllung führt Stefan Heide mit seinen Gewändern fort. Bauschige kopflose Faltentücher schreiten in majestätischer Bewegung von links nach rechts, verschmelzen mit dem hellen, ockerfarbenen Bodengrund. Haben sich die Subjekte in Objekte verwandelt oder sich Objekte über die Subjekte erhoben? Zum Greifen nah verlocken die Tücher zur Berührung und entziehen sich zugleich in verschwommenen Schemen. Verhüllungen, die Hülle erschrecken in dem Bewusstmachen von Endlichkeit und Vergänglichkeit.

Dr. Monika Turck

Quelle: Stefan Heide Katalog 2001

Stefan | Andreas Heide